top of page

C wie Chiara, D wie Davonfliegen

C wie Chiara

Mit etwas mehr Glück im Unglück hätte Chiara Alberti nach ihrem Sturz aus dem zweiten Stock am nächsten Tag wie Mozart spielen können. Es soll aber auch Menschen geben, die durch einen Schlag auf dem Kopf zu Mördern werden. So gesehen konnte sie froh sein, nur ein paar Gehirnzellen verloren zu haben. Bedauerlicherweise handelte es sich gerade um diejenigen, die ihr einziges Talent ausmachten, die Fähigkeit, ganze Bücher gleich beim ersten Zuhören wortgenau in Erinnerung zu behalten - Punkte, Kommas und Seitenzahlen inbegriffen - und das schon im Alter von drei Jahren. Das Abhandenkommen von Chiaras außergewöhnlichem Gedächtnis  fiel aber nicht auf, weil niemand sein Vorhandensein bemerkt hatte, weder ihre Eltern, die nie Zeit hatten, ihr vorzulesen, noch Tante Rosolina, die das regelmäßig und gerne tat. Auch die ständig wechselnden Dienstmädchen, die jeden Abend Chiaras Betteln nachgaben, hatten keine Ahnung davon. Nach einem Tag unter der Fuchtel einer zucasanghe, einer Blutsaugerin, wie sie ihre Herrin nannten, waren sie ohnehin kaum wachzuhalten, auch nicht durch Kneifen, Schütteln oder Anstoßen.

Chiara schlief nie beim Vorlesen ein, sie schlief überhaupt sehr wenig. Wenn sie wieder allein war, lag sie da, im Dunkeln, die Augen auf eine Ritze Licht gerichtet, das durch das Fenster drang, und wiederholte jedes Wort von dem, was sie gerade gehört hatte, mehrmals, bis es sie langweilte und sie in ihre liebsten Träume entfloh.

Manchmal war sie ein gesundes, kräftiges Mädchen, das an einer in den Himmel wachsenden Bohnenranke kletterte, bis zum Wolkenschloss einer warmherzigen Fee. Manchmal war sie ein gefeierter Star, der in einem prächtigen Kleid auf einem roten Teppich schritt. Manchmal war sie eine weltberühmte Pianistin, auf die alle Zuhörer im Saal atemlos warteten. Manchmal war sie das Kind einer Bäuerin und hatte fünf Geschwister, einen Hund, eine Katze und ein Kaninchen, das nicht geschlachtet wurde. Manchmal war sie ein Eskimomädchen, das sich unter einer Schneedecke zum

Schlafen legte und nie wieder aufwachte ...

 

 

G  wie Gift

 

Für das Gift der Worte und der Schläge hätte man Eleonora und Aldo ohne weiteres verantwortlich machen können, vielleicht auch für das  des Nikotins. Für das damals noch unbekannte Gift im Essen, das sich durch den Körper und das Gehirn ihrer Tochter fraß, konnten sie aber nichts. Sie haderten mit dem Schicksal, das sie mit einem seltsamen, stillen, schlecht gedeihenden und immerzu kränkelnden Kind gestraft hatte. »Tu si' cumm o ciuccio 'e Fichella: nuantanove chiaije e 'a coda  fraceta. Du bist wie der Esel von Figella – 99 Leiden und ein verfaulter Schwanz«, sagte Aldo, wenn wieder mal der Arzt gerufen werden musste, und obwohl das Kind ihn stets korrigierte: »39, Papa, es heißt, 39 Leiden«, blieb er bei seinen 99. Er sagte auch, ihre Bewegungen seien unkoordinierter als die von anderen Kindern, weswegen sie öfter hinfalle, und sie sei unachtsamer als andere Kinder, weswegen sie öfter Sachen verliere, wie zum Beispiel den Lieblingsring ihrer  Mutter. Mag sein, dass sie Schulsachen, Geld und manchmal den Verstand verlor, doch nicht den Ring, den ihre Mutter immer trug, weil er ihrer Mutter gehört hatte, und der eines Tages wieder am Finger steckte, ohne eine Erklärung, geschweige einem Wort des Bedauerns für jemanden, den man zu Unrecht beschuldigt hatte. Auch mit dem plötzlichen Verlust ihrer einzigen Begabung hatte Chiara nichts zu tun. Daran sind allein die Treppengeister schuld gewesen. Chiaras Bekanntschaft mit ihnen liegt lange zurück.

 

Es war im Sommer vor ihrem neunten Geburtstag und es war sehr heiß. Familie Alberti war gerade von der Peripherie der kleinen Stadt am Fuß des Vesuvs, in der sie lebten, ins Zentrum umgezogen. Aldo, von Beruf Rechtsanwalt, der jede unnötige Anstrengung zu vermeiden suchte, hatte in einem ehrwürdigen Haus an der Hauptstraße zwei Wohnungen auf derselben Etage gekauft. Sein Traum, Familie und Anwaltskanzlei unter ein Dach zu bringen, und der seiner Frau, die durch die bessere Lage gesellschaftlich aufzusteigen hoffte, waren so in Erfüllung gegangen. Nur für Chiara gab es keinen einzigen Vorteil ...

 

 

A  wie Antoine

 

Es gibt Orte, die abstoßen, Orte, die anziehen und Orte, die zum Bleiben einladen. Violettas Heimat, noch schöner als auf den Fotos, war ein Ort zum Bleiben. Ihr Haus hatte eine weiße Tür, eingefasst in einen Bogen aus Lavastein, und war vollkommen mit Efeu bedeckt. Von der hinteren Hausseite schaute man auf eine Burgruine und von vorne auf das Meer. Chiara kam nachmittags an. Für Ende März war es ungewöhnlich warm. Sie fror aber. Violetta steckte sie gleich in die Badewanne. Ein halbes Jahr Grabeskälte fiel von ihr ab.  »Hast du wirklich wie ein Kind um mich geweint?«, fragte sie. Violettas Blick drückte Unverständnis aus. »Was meinst du?«

   »Ach nichts. Wie lange darf ich bei dir wohnen?« 

   »Du kannst das Zimmer über der Garage haben, es hat eine kleine Terrasse mit einer Menge Pflanzen, und du darfst bleiben, solange du möchtest.« 

Sie saß auf dem Rand der Wanne und wusch ihr das Haar, mit etwas, das nach

Vanille und Honig duftete.

   »Ich werde dir helfen, auch im Laden, und ich kümmere mich um den Garten. Ich kann übrigens für mich aufkommen, Vater hat mir etwas Geld hinterlassen.«

Da sah Violetta die Verletzungen an Chiaras Unterarm. Sie stand auf und hob den Rock hoch. Ihre Schenkel waren voller dünner, silberweißer Narben...

 

 

F  wie Francesca

 

... Schon am Flughafen, beim Warten auf den Überlandbus, spürte Chiara eine Veränderung auf der Haut, wie wenn man einen kratzigen Pullover auszieht und in etwas Weiches, Seidiges schlüpft. Es war die Ankunft in einer fast menschenleeren Welt, in der die Berge, die Felsen, die Weiden, inmitten der wild wuchernden Büsche, und natürlich das Meer die Maßstäbe setzten. Während der Fahrt meinte sie, in einen Laubtunnel gelangt zu sein, durch den in der hereinbrechenden Dämmerung das Licht nur schwach schimmerte. Die schmale Straße schien den Bus nicht zu dem Städtchen im Norden zu bringen, vielmehr glaubte sie sich im Helldunkel des Dickichts einem Ort zu nähern, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander flossen. Sie befand sich nicht mehr auf einer Urlaubsinsel, sie war dorthin unterwegs, wovon sie immer geträumt hatte – zu einer geheimnisvollen Lichtung, deren berückender Duft Pflanzen, Tiere und Menschen umschloss und vereinte...

 

... Als sie das Bild von La Pietraia sah, wusste sie sofort, dass ihre Suche ein Ende gefunden hatte. Zwei Monate später gehörte das Haus ihr und auch ein kleiner Laden am Hafen. Sie kündigte ihre Arbeit in Nizza und packte nur das Wichtigste zusammen. Ein paar Bücher sollten auch mit. Da fiel aus Julien Greens Roman Pascals Brief aus und endlich öffnete sie ihn. Es lag aber kein Geld im Umschlag, wie sie damals vermutet hatte, sondern ein Blatt Papier mit einem einzigen langen Satz, den sie so wenig verstand wie damals den Kuss. Manchmal aber, während der Nacht und besonders am frühen Morgen, können sich auch die geheimsten Botschaften enträtseln, wenn man ein wacher Schläfer ist und in einem zweihundert Jahre alten Steinhaus wohnt, in dem nicht nur der Wind umherstreift und flüstert...

 

bottom of page