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Rezensionen &
Hörprobe

Der Zettel

gelesen von René Wagner

Der Lockruf

Radikale Poesie

https://radikale-poesie.com/

Tiefgründig ist ein Adjektiv, das für Literatur oftmals verwendet wird. In diesem Fall trifft es absolut zu.

 

Wir begegnen Axel Menzel, dem vierzigjährigen Icherzähler der Geschichte. Axel Menzel ist Buchrestaurator, einsam, verheiratet und mittlerweile getrennt lebend von der siebzehn Jahre jüngeren Billa.

Die Gesellschaft anderer Menschen strengt Axel Menzel an und allein die Aussicht, zu einem Abendessen eingeladen zu werden, bereitet ihm schlaflose Nächte. Er möchte am liebsten seine Ruhe haben, aber seine Seele sehnt sich nach Leben und Vitalität und dagegen hat er keine Chance.

Er bekommt einen lukrativen Auftrag in Neapel, der Geburtsstadt seiner verstorbenen Mutter und so lässt er sich auf eine Reise ein, die ihn in alle möglichen Abgründe, Verzweigungen, verwunschene Gemächer und Untergründe führt.

 

Ida Casaburi vermag es, den Leser hineinzuziehen in diese Geschichte einer Reise, von der bald klar wird, dass sie eine innere Reise ist. Insofern haben wir es mit einem Entwicklungsroman zu tun, auch wenn das Buch gerademal zweihundert Seiten hat. Auf den ersten Seiten war mir gelegentlich das eine oder andere Adjektiv zuviel; aber sobald die Autorin tiefer in die Erzählung einsteigt, verliert sich dies. Es gelingt Ida Casaburi, mit verdichteten Bildern, Szenen und Chiffren zu hantieren, wie man sie aus archetypischen Träumen kennt. Als Leser war ich immer wieder eingenommen und gebannt von den Stimmungen und Bildern, die eine Nachhaltigkeit an Wirkung in sich tragen, wie man sie aus manchen Träumen kennt: die Stimmung des Traumes hallt im Wachzustand nach, obwohl man nicht mehr genau sagen könnte, was genau im Traum sich ereignet hat.

 

Italien lässt Axel Menzel lebendig werden, es vitalisiert ihn. Sein zweidimensionales Leben wird räumlich und weit, er durchschreitet Landschaften und Zimmerfluchten in geheimnisvollen Häusern und er erhält kryptische Botschaften, mal aus dem Mund eines Fremden, mal auf in einem Bettlaken eingenähten Zettel.
Wasser als Motiv durchzieht die Geschichte – das Meer, Wasserkaskaden in der Tiefe, in der er merkwürdigen Gestalten begegnet, das Meer auch als Schicksalsort von Leben und Tod. Wir kennen das Wasser als Symbol der Seele, des Weiblichen und des Mütterlichen. Folgerichtig ist es das Trugbild einer unbekannten Frau in Blau auf einem Gemälde, die er auf seiner Reise sehnend sucht, die er manchmal leibhaftig erhascht und die ihm doch wieder entgleitet.

Und jetzt? Etwas hat sich mit mir verbunden, wird mir jetzt erst wirklich geschenkt.

 

Nach vergeblicher Suche kommt er zurück und findet einen Brief von Billa, die jedoch verschwunden ist. Dieser Brief, an dem wir als Leser teilhaben dürfen, gibt Billa Konturen, sie wir nun zu einer lebendigen Person mit Gefühlen und Strebungen. Auch sie ist auf der Reise und beschreibt ihre Entwicklung in Traumbildern. Wir erleben eine Doppelung der Motive, als stünden zwei Spiegel gegenüber: auch Billa kämpft im Traum mit dem Wasser, ein Unbekannter fertigt ein Portrait von ihr an; und auch sie erhält von einer fremden Person, diesmal eine Frau, eine Botschaft, welche sie auf die Reise schickt.

 

Wie nebenbei und mit leichter Hand gelingt es  Ida Casaburi, die inneren Reisen von Axel und Billa miteinander korrespondieren zu lassen und zeigt so das unbewusste Band, das zwischen diesen beiden Menschen gewoben ist. Das ist schön zu lesen, zumal die Autorin hier ohne übertriebene Romantisierung oder zuckrige Schilderungen auskommt. Sie bleibt bei den Bildern und dem Geschehen und allein dies entwickelt seinen Zauber.

 

Sehr gefallen hat mir an dem Buch die Leichtigkeit, mit der es die Erzählung und die Figuren sich entwickeln lässt.  Wir sind ihnen ganz nah und zugleich schweben sie fast schwerelos durch Raum und Zeit. Ida Casaburi nimmt uns mit auf diese Traumreise, sie lässt uns die Tiefen ihrer Figuren miterleben. Wir erfahren als Leser von der seelischen Entwicklung zweier Menschen, ohne dass sie bloßgestellt oder plump psychologisiert werden. Und indirekt erzählt uns der Roman, dass es notwendig ist, erst sich selbst zu begegnen und zu entwickeln, bevor wir in eine Begegnung mit einem anderen Menschen gehen können.

 

Der Lockruf ist ein Buch, bei dem ich den Wunsch verspürte, es ein zweites Mal zu lesen, um ihm ganz auf den Grund zu gehen. Ähnlich ging es mir mit dem Roman Am Hang von Markus Werner.
Die raffiniert ineinander verwobenen Erzählstränge und der Zauber der Sprach- und Traumbilder des Buches machen seine Faszination aus und ich wünsche es in die Hände vieler Leser.

 

Buchtipps & Filmtipps

www.dieterwunderlich.de

 

Ida Casaburi beweist mit dem virtuos komponierten Roman "Der Lockruf" ihr erzählerisches Können. Mit viel Fantasie und Kreativität hat sie einen surrealen Kosmos voller Rätsel und Merkwürdigkeiten geschaffen. Das ist unterhaltsam und zugleich Literatur auf hohem Niveau.

 

Das Buch hat mich von der ersten Seite an fasziniert. Die Inhaltsangabe ist unzulänglich, nicht zuletzt, weil es in "Der Lockruf" weniger auf die Handlung als auf die Komposition ankommt. Es gibt faszinierende Traumsequenzen in "Der Lockruf", und man könnte auch den gesamten Inhalt für einen Traum halten, denn die schrägen Figuren und die absurden, geheimnisvollen Begebenheiten sind nicht von dieser Welt. Mit viel Fantasie und Kreativität hat Ida Casaburi einen surrealen Kosmos voller Rätsel und Merkwürdigkeiten geschaffen. Die melancholische Atmosphäre ist ungemein dicht. Immer wieder blitzen tragikomische Einfälle auf.

Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Form von dem schrulligen Buchrestaurator Axel Gennaro Menzel. Nur einmal, in einem Brief seiner Ehefrau Billa, wird seine Perspektive relativiert. Erst am Ende versteht man, dass die ersten beiden Seiten und die letzten Kapitel eine Rahmenhandlung bilden.

 

 Eigentlich hätte ich diesen Bericht gleich schreiben oder zumindest mir Notizen machen müssen, denn selbst nach einer relativ kurzen Zeit besteht die Gefahr, dass Einzelheiten verloren gehen und durch Fantasie ersetzt werden.

 

[...] Das Logbuch von Kapitän Monnier liegt vor mir aufgeschlagen. Ich beabsichtige, mit meinem Schreiben genau an der Stelle zu beginnen, wo er aufgehört hat. Umso öfter ich seinen letzten Eintrag lese, desto mehr denke ich, dass es sich um Ereignisse handelt, die nicht nur mit dem Meer, dem Wetter und dem Schiff in Zusammenhang stehen. Und obwohl es verrückt klingt, denke ich sogar, dass sie etwas mit mir zu tun haben könnten. Inwiefern, weiß ich noch nicht. Möglicherwese werde ich es erst am Ende meines Berichtes erkennen. Sollte es mir gelingen, so weiß ich nicht, was mit mir geschehen wird.

 

Ida Casaburi lässt den Ich-Erzähler in "Der Lockruf" mit seiner Laienhaftigkeit kokettieren: An dieser Stelle halte ich es für sinnvoll, einige Angaben über meine Person zu machen, obwohl nicht anzunehmen ist, dass andere diese Aufzeichnungen jemals lesen werden. Ich bin kein Poet, und wie man sieht, auch kein begabter Schreiber.

 

 Anders als bei "Das Hausmädchen mit dem Diamantohrring" und "C wie Chiara, D wie Davonfliegen" orientiert sich Ida Casaburi nach ihrer eigenen Aussage bei "Der Lockruf" an den "strange stories" des englischen Schriftstellers Robert Fordyce Aickman (1914 – 1981).

 

Das an M. C. Escher erinnernde Titelbild der Taschenbuchausgabe passt sehr gut zu dem ebenso poetischen wie surrealen und geheimnisvollen Roman "Der Lockruf", mit dem Ida Casaburi ihr großes erzählerisches Können beweist.

 

Eines der besten Bücher, die ich in den letzten Wochen und Monaten las (und ich lese sehr viel).


 

Nussbaum Medien

 

»Der Kurzroman destilliert die Erzählung auf das Wesentliche hin zu einer äußerst raffinierten Spannung und bietet mit seinem offenen Ende die Möglichkeit kontroverser Diskussionen.«
 

 

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